Die Löwin

Es war einmal eine alte Löwin, die in ihrem Leben schon viel gekämpft hatte. Sie hatte - vielleicht gerade deshalb - ein gutes Herz. Doch der Ruf einer rauen Kämpferin eilte ihr stets voraus. Die Löwin war zufrieden damit. Ihr Revier war dadurch sehr pflegeleicht geworden. Sie musste morgens nur ihre Krone aufsetzen und konnte dann in Ruhe an den Grenzen ihres Reviers spazieren gehen. Und sollte ihr doch einmal ein junger Spatz oder eine alte Krähe über den Weg fliegen, rückte sie einfach ihre Krone zurecht, kräuselte die Schnurrhaare, und riss mit jedem Zentimeter, den sich der Eindringling näherte, die Augen ein bisschen weiter auf. Meistens erschrak der Eindringling dann so sehr, dass er das Revier der alten Löwin in Zukunft weiträumig umflog.

 

Die alte Löwin war in den letzten Wochen sehr damit beschäftigt Ordnung in ihrem Zuhause zu halten. Sie schüttelte täglich die Bettdecken auf, fegte den Eingang, arrangierte die Blumentöpfe und sortierte täglich die Tassen im Küchenschrank neu.

 

Damit war sie sogar während ihrer Spaziergänge und bis spät in die Nacht beschäftigt. Sie überlegte in jeder freien Minute, ob die blauen Tassen besser neben den roten stehen sollten, oder doch besser neben den blau-weiß gepunkteten. Diese Aufgabe war ihr so wichtig, dass sie es gar nicht mehr schaffte, regelmäßig die Dornenbüsche am Rande ihres Reviers zu schneiden.

 

Es kam, wie es kommen musste: Bei einem ihrer morgendlichen Spaziergänge war sie so in Gedanken, dass sie mit ihrer Vorderpfote in einen großen Dorn trat. Der Dorn war so lang und so borstig, dass die Löwin laut aufschrie, bevor sie stolperte und seitwärts auf den Boden fiel. Ihre Krone kullerte vor ihr auf den Weg und die Löwin fühlte sich ganz klein und hilflos. Das machte sie ganz stumm.

 

Sie riss ihr altes Herz ganz tapfer zusammen und hielt Ausschau nach Hilfe.

Zum Glück waren die jungen Spatzen so lebhaft und aufmerksam wie immer. Einer, der gerade der Tapferste war, flog hinunter zu der alten Löwin und zwitscherte in fröhlichen Tönen: „Keine Sorge! Das haben wir gleich. Ich kann dir schnell helfen, aber du musst stillhalten.“ Die Löwin schloss die Augen und zuckte nur kurz, als der kleine Spatz ihr den Dorn aus der Pfote zog. 

 

Eine alte Krähe hatte von Weitem zugesehen und rief nun: „Pass auf, dass sich die Wunde nicht entzündet! Halte sie sauber!“ Die Löwin warf der Krähe einen grollenden Blick zu. Das wusste sie nämlich schon längst selber. Jetzt fingen auch die Spatzen an, gute Ratschläge zu verteilen. Der eine erzählte von einem Wasserloch mit besonders sauberem Wasser, der andere von einer Stelle mit wohltuender Heilerde. Die alte Löwin wollte jetzt nichts als ihre Ruhe. Doch aus allen Richtungen kamen jetzt neue Ratschläge. Das Warzenschwein erklärte, wie man am besten die Dornenbüsche zurückschneidet. Das Erdferkel kannte die neueste Methode, um Ordnung in Heim und Kopf zu schaffen. Die alte Löwin stöhnte und gab jedem recht, in der Hoffnung alsbald ihre ersehnte Ruhe zu bekommen.

Abends lag sie schnaufend in ihren Bettdecken, leckte sich die Pfote und schmiedete Pläne für die blau-weiß gepunkteten Tassen. UND für die Dornenbüsche.

 

„Man könnte alle Dornenbüsche ausreißen.“, dachte sie.

„Aber wie schütze ich mich dann im Alter vor den Hyänen?“

„Vielleicht könnte ich stattdessen Dornenbüsche pflanzen, die nicht so schnell wachsen.“

„Aber die schützen mich auch nicht so gut…“

„Und die grünen Tassen könnten bei den gelben Tassen stehen.“

 

Am nächsten Morgen ging die alte Löwin die Dornenbüsche schneiden. Das fiel ihr unheimlich schwer. Ihre verletzte Pfote schmerzte und musste erst noch heilen.

 

„Man könnte alle Dornenbüsche ausreißen.“, dachte sie.

„Aber wie schütze ich mich dann im Alter vor den Hyänen?“

„Vielleicht könnte ich stattdessen Dornenbüsche pflanzen, die nicht so schnell wachsen.“

„Aber die schützen mich auch nicht so gut…“

„Und die gelben Tassen könnten bei den grünen Tassen stehen.“

 

Die Krähen hatten derweil gehört, dass gestern im Revier der alten Löwin super wichtige Informationen ausgetauscht wurden. Außerdem wollte jeder wissen, wie es der intelligenten alten Löwin ging. Au wei, war da die Alte genervt. So ein Gegacker und Gekrächze. Und ihre Krone? Die war nicht da, um zurecht gerückt zu werden! Der alten Löwin fiel nichts besseres ein, als einmal richtig laut zu brüllen.

Da war es still.

 

Die Krähen wurden von dem lauten Gebrüll bis weit hinter die Dornenbüsche geblasen. So etwas war ihnen noch nie passiert. Das verschlug ihnen glatt die Sprache und sie mussten erst einmal schauen, was als nächstes passiert, bevor sie sich wieder trauten miteinander zu plappern.

 

Als nächstes passierte - eigentlich nichts. Die Löwin stand an den Dornenbüschen und wollte die Ruhe genießen. Aber vor ihr waren so viele Dornen, zuhause warteten die Tassen im Küchenschrank und weit hinter den Dornenbüschen konnte sie das Geplapper der Krähen erahnen. "Mist.", dachte sie. Die Krone war immer noch nicht auf ihrem Kopf, um zurechtgerückt zu werden. Mit Krone war alles viel einfacher. Man musste nur kurz die Schnurrhaare kräuseln, wenn einem mal was nicht passte und - schwupps - war die Welt wieder in Ordnung. (Die großen Augen machte die Löwin nämlich nur, weil sie es so lustig fand, wenn die anderen sich so doll erschraken.)

Aber ohne Krone war alles viel anstrengender. Und das machte der alten Löwin Angst. Ihre Pfote war noch nicht gesund und es war noch so viel zu tun. Da konnte man keine zusätzlichen Scherereien gebrauchen. Die Löwin war so konzentriert auf die vielen Dornen und darauf, ihre Ruhe zu bewahren, dass sie gar nicht bemerkte, dass die Krone gar nicht weit von ihr auf dem Weg lag. Sie war so erschöpft, dass sie nachhause ging, ohne nach ihrer Krone zu suchen.

 

So ging es die nächsten Tage weiter. Die alte Löwin schleppte sich zu den Dornenbüschen, brüllte ein paar Mal und schlich erschöpft nachhause. Die Bettdecken waren schon ganz zerknault, die Blumentöpfe standen wahllos im Weg und am Eingang konnte man Bilder in den Staub malen. Nur im Küchenschrank, da herrschte Ordnung.

 

Es kam der Tag, da war die Löwin so erschöpft vom Dornenschneiden, dass sie es nicht mehr bis nachhause schaffte. Sie legte sich am Wegesrand auf den Boden, schloss die Augen und schlief - ohne einen weiteren Seufzer von sich zu geben - ein. Es war ein langer Schlaf, voller Träume, die geträumt werden wollten.

 

Am nächsten Morgen erwachte sie, zwar steif vom harten Boden, doch gut erholt. Die Pfote schmerzte nicht mehr so sehr. Da stand die alte Löwin auf und räkelte sich. Sie streckte erst die Hinterbeine, dann die Vorderbeine - so lang sie konnte, und gähnte dabei herzhaft.

 

SCHNAPP!!!

Das Maul der Löwin schnellte so schnell zu, wie die Zunge eines Chamäleons. Mit einem Mal war sie hellwach.

Beim Gähnen war etwas an ihre Schnurrhaare gestoßen! 

Wer störte sie denn so früh - und ÜBERHAUPT?!

 

Die Löwin holte tief Luft, um das lauteste Brüllen aller Zeiten zu brüllen.

 

Zum Glück für alle ihre Nachbarn, blinzelte sie kurz. Und da erkannte sie, was da vor ihr auf dem Weg lag: ihre Krone!

„Zum Glück!“, dachte da auch die alte Löwin und setzte sich die Krone schnell auf den Kopf. 

Sie kräuselte kurz ihre Schnurrhaare - und war zufrieden. 

Jetzt musste sie nicht mehr brüllen, konnte ihre Kräfte sparen und sich ganz auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren: Die Dornenbüsche und die Kaffeetassen.